S. Lotto-Kusche: Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik

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Titel
Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik. Der lange Weg zur Anerkennung 1949–1990


Autor(en)
Lotto-Kusche, Sebastian
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 264 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim B. Müller, Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, Mannheim

Der Völkermord an den Sinti und Roma ist in der europäischen und globalen Forschungslandschaft keine terra incognita mehr. Eine von der International Holocaust Remembrance Alliance herausgegebene Bibliographie verzeichnete 2015 schon rund 1.500 Titel.1 Der sich radikalisierende Prozess, der von der Ausgrenzung, Enteignung und Verfolgung der deutschen und europäischen Sinti und Roma im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich bis hin zum Leiden und Sterben durch Deportationen, Ghettoisierungen und Zwangssterilisierungen sowie schließlich zum systematischen Völkermord in Vernichtungs- und Konzentrationslagern, aber auch durch Massenerschießungen führte, wird immer umfassender erforscht. Neue Grundlagenwerke erschließen die verfügbaren Quellen, wie die an der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg angesiedelte, von Karola Fings betreute „Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa“.

Dennoch bleiben die späte Institutionalisierung und der zeitliche Verzug der Forschung festzuhalten. Die Unterschiede des Umgangs mit dem „Romani Holocaust“ gegenüber dem „Jewish Holocaust“ beginnen schon bei begrifflichen Unsicherheiten: Ari Joskowicz weist etwa treffend darauf hin, dass trotz der häufigen Verwendung das Wort „Porrajmos“ für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegenüber Sinti und Roma innerhalb der Romani-Minderheiten nicht anerkannt ist. Völkermord und „Holocaust“ bleiben vorerst die passenderen Bezeichnungen.2 Symptomatisch ist, dass es bis heute nur ein Buch über den Völkermord gibt, das als Meisterwerk gelten kann und an dem sich alle nachfolgenden Forscherinnen und Forscher distanzierend oder zustimmend abarbeiten – Michael Zimmermanns „Rassenutopie und Genozid“ von 1996.

Die gesellschaftlichen Bedingungen für diesen Zustand sind in Grundzügen bekannt. Bis in die 1980er-Jahre führten, so Karola Fings, „die Bagatellisierung der NS-Verfolgung, die Stigmatisierung der Opfer, die Schuldumkehr, die Verdunkelung der NS-Verbrechen und das allgemeine Desinteresse an einer Aufarbeitung [...] dazu, den Völkermord zu leugnen“.3 Mit dem Ziel der Überwindung des gesellschaftlichen Komplexes von Abwehr und Leugnung formierte sich die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, anfangs vorangetrieben von Überlebenden des Völkermordes. Seit den späten 1970er-Jahren trat der junge Bürgerrechtler Romani Rose (geb. 1946) als prominenteste Stimme hervor, seit Gründung der Dachorganisation des Zentralrates 1982 dessen Vorsitzender und auch Leiter der Delegation, die am 17. März jenes Jahres von Bundeskanzler Helmut Schmidt empfangen wurde. Dieses Treffen und Schmidts anschließende Presseerklärung gelten als der Wendepunkt für die öffentliche Anerkennung des Völkermordes in der Bundesrepublik.

Jüngste Forschungen präzisieren die etablierte Erzählung. Daniela Gress etwa erforscht mit großem Erkenntnisgewinn die vielfältigen Akteurinnen und Akteure der Bürgerrechtsbewegung und ihrer Partnerorganisationen.4 Einen weiteren Schritt zur Historisierung leistet die Dissertation von Sebastian Lotto-Kusche mit dem passenden Untertitel „Der lange Weg zur Anerkennung 1949–1990“. Darin kommt der in der deutschsprachigen Forschung bislang konsequenteste Ansatz zum Tragen, die „monumentalische“ Fokussierung auf eine kleine Gruppe weniger Männer und noch weniger Frauen durch multiperspektivische Kontextualisierung zu weiten.

Für Lotto-Kusche geht es um den historischen Nachvollzug eines Paradigmenwechsels, der Ablösung von „Denkstilen“, wie er unter Berufung auf Ludwik Fleck formuliert: der Wechsel vom „kriminalpräventiven“ zum „genozidkritischen“ Denkstil. Mit diesem etwas missverständlichen, wohl analog zu „rassismuskritisch“ gebildeten Begriff ist das „Bewusstsein“ gemeint, „dass es sich beim Völkermord an Sinti und Roma tatsächlich um einen ‚rassisch‘ motivierten Genozid gehandelt habe“ (S. 24). Offenkundig hat der Autor aus der Not eine Tugend gemacht und aufgrund des „restriktiven Archivzugangs durch den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“ (S. 19, S. 25) seine Suche immer mehr auf Parallelüberlieferungen, konvergierende Netzwerke und administrative Aktenbestände ausgedehnt. Den problematischen, dem Autor zufolge auch vor einer „Verleumdungskampagne“ nicht zurückschreckenden Umgang des Zentralrates mit Michael Zimmermann (1951–2007) thematisiert Lotto-Kusche mehrfach (S. 186–188, S. 197f.). Aber er geht sehr behutsam vor, um sein überraschendstes Fundstück zur staatlichen Anerkennung des Völkermordes zu präsentieren: Der Brief von Familienministerin Antje Huber an Bundeskanzler Schmidt vom 11. Januar 1982, demzufolge „das Verbrechen bereits seit dem Bundesentschädigungsgesetz-Schlussgesetz (BEG-SG) 1965 als Völkermord behandelt worden sei“ (S. 10, vgl. S. 153f.), scheint die „monumentalische“ Lesart zu dementieren. Aber der Autor ordnet diese Quelle kritisch ein, überzeichnet die Relevanz der verwaltungsinternen Einschätzung nicht, weist darauf hin, dass sich an der Entschädigungspraxis wenig geändert hatte, und belegt damit, dass der öffentliche Akt der Anerkennung vom 17. März 1982 durch ältere, behördeninterne Aktenvermerke und die ministerielle Rechtsauffassung keineswegs obsolet wurde.

Bei der Verfolgungsinstanz Kriminalpolizei, die eine grundgesetzwidrige „Sondererfassung“ durchführte, genauso wie beim für die Minderheit zuständigen Familienministerium wurden jahrzehntelang auf der Grundlage des rassistischen Expertenwissens die Bagatellisierung des Völkermordes und die „kriminalpräventive“ Schuldumkehr perpetuiert. Der Ministerialbeamte Karl-Heinz Kursawe etwa – von 1956 an im Innen-, seit 1969 im Familienministerium – bekämpfte erfolgreich jeden Versuch, der Minderheit Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, und etablierte als lange unanfechtbaren „Zigeunerexperten“ des bundesrepublikanischen Staatsapparates den Medizinalbeamten Hermann Arnold, der in Kontinuität zur „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ Robert Ritters stand. Diese Mechanismen setzten sich bis weit in die sozialliberale Ära fort. Die regierungsamtliche Verflechtung des Netzwerks der Schülerinnen und Schüler Ritters im Detail rekonstruiert zu haben, gehört zu den Verdiensten von Lotto-Kusches Studie. Wie eng gesellschaftliche Institutionen, insbesondere die Katholische Kirche mit ihrer eigenen „Zigeunerexpertin“, der Sozialarbeiterin Silvia Sobeck, in diese Netzwerke verwickelt waren und jede Selbstbestimmung der Minderheit paternalistisch verhindern wollten, arbeitet Lotto-Kusche erhellend heraus. Auch die Übernahme des Internationalen Suchdienstes, der unter alliierter Verantwortung Anfragen von Sinti und Roma unterstützt hatte, durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz 1955 wirkte sich nachteilig auf die Entschädigungsverfahren aus und bestärkte den „kriminalpräventiven“ Diskurs.

Lotto-Kusches Rekonstruktion eines gegenstrebigen, „genozidkritischen“ Denkstils wird durch die Erkenntnisse der kürzlich erschienenen Studie von Ari Joskowicz parallelisiert. Während Joskowicz die jüdischen Stimmen hervorhebt, die sich für die Anerkennung des Völkermordes einsetzten, und dabei eine europäische Geschichte schreibt, ist Lotto-Kusches Stärke auch in dieser Hinsicht wiederum der Blick in die Innenräume der westdeutschen Machtapparate – zur DDR finden sich nur wenige Hinweise, die vor allem Forschungslücken markieren.

Wenn es um die jüdische Unterstützung geht, findet sich mitunter bei Joskowicz die prägnantere Schilderung. Das gilt etwa für die Kreise um Kurt May, der das Frankfurter Büro der United Restitution Organization leitete und Wichtiges für Dokumentation und Entschädigung leistete, sowie den Frankfurter Richter Franz Calvelli-Adorno, einen Cousin Theodor W. Adornos, der entscheidend dazu beitrug, dass der Bundesgerichtshof 1963 sein Skandalurteil von 1956 revidierte: Fortan galten Sinti und Roma als entschädigungsberechtigt aufgrund „rassischer“ Verfolgung auch in den Jahren vor 1943. Über politische und intellektuelle Akteurinnen und Akteure wie Miriam Novitch, die erste bedeutende Historikerin des Völkermordes an den Sinti und Roma, über Simon Wiesenthal oder über Kooperationen von jüdischen und Romani-Jugendorganisationen ist bei Joskowicz ebenfalls vieles zu erfahren.

Aber Lotto-Kusche kann zeigen, dass ohne Politiker und Beamte, die sich die Sache der Sinti und Roma zu eigen machten, der Einsatz der Minderheit und ihrer zivilgesellschaftlichen Unterstützung weniger erfolgreich gewesen wäre. Der CDU-Politiker Franz Böhm, der dem Widerstand angehört hatte und sich auch um die deutsch-jüdische und deutsch-israelische Verständigung verdient machte, war unter den ersten, die in den 1950er-Jahren von einem systematischen Völkermord aus rassistischen Gründen sprachen. Bundespräsident Gustav Heinemann und später Abgeordnete von SPD und FDP wie Klaus Thüsing und Hildegard Hamm-Brücher sind ebenso zu nennen. Einen großen Schub für Anerkennung und Gleichberechtigung löste eine transnationale Entwicklung aus, die Formulierung einer europäischen Minderheitenpolitik durch den Europarat seit den 1960er-Jahren. In der Regierung Schmidt wiederum kam es auf den Ministerialbeamten und Abteilungsleiter im Kanzleramt Gerhard Konow an, der über mehrere Jahre die antiziganistischen Vorbehalte aus dem Apparat beiseiteräumte und den Weg zur Einladung der Delegation um Romani Rose durch den Bundeskanzler im März 1982 ebnete.

Lotto-Kusche gelingt es, eine Minderheitengeschichte, die ihre eigene Marginalisierung überwindet, zum Teil der „allgemeinen“ Geschichte werden zu lassen. Der Kampf um die Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma war ein wichtiges Kapitel in der politischen Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik, das viel über das Selbstverständnis der Nachkriegsdemokratie, gesellschaftlichen Pluralismus, Volksbegriffe und die Fragilität der entstehenden „Erinnerungskultur“ erkennen lässt. Auch verpasste Chancen werden markiert, etwa die verweigerte „Globalentschädigung“, die die Situation von Sinti und Roma in ganz Europa verbessert hätte – ein Aufgabenfeld, dem immer neue EU-Strategien gewidmet werden. Instruktiv sind auch die kritischen Befunde zu den Selbstorganisationen der Minderheit. In der Erforschung des Völkermordes haben diese es den Forscherinnen und Forschern nicht immer einfach gemacht, was nur zum Teil historisch begründet war. Zur politischen Repräsentation merkt Lotto-Kusche an: „Es gab zu früh zu viele Vereine, um sich effektiv organisieren zu können.“ (S. 211)

Die kritische Historisierung und Kontextualisierung, die Lotto-Kusche leistet, wird einer der ersten Wortmeldungen nach dem Völkermord gerecht. Matéo Maximoff (1917–1999), ein Überlebender und französischsprachiger Schriftsteller, der unmittelbar nach 1945 schon die – wissenschaftlich bislang nicht belegte – Zahl von 500.000 Toten eingeführt hatte, forderte damals, das Leiden und den Kampf der Sinti und Roma als Teil der europäischen Geschichte zu begreifen.5 Sebastian Lotto-Kusches Buch ist auf diesem Themenfeld nun der wichtigste deutschsprachige Beitrag der letzten Jahre, der eine Fülle von Anregungen für die weitere Forschung bietet.

Anmerkungen:
1 Vgl. https://www.holocaustremembrance.com/sites/default/files/ann_bib_long.pdf (21.04.2023).
2 Vgl. Ari Joskowicz, Rain of Ash. Roma, Jews, and the Holocaust, Princeton 2023, S. 20.
3 Karola Fings, Schuldabwehr durch Schuldumkehr. Die Stigmatisierung der Sinti und Roma nach 1945, in: Oliver von Mengersen (Hrsg.), Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation, Bonn 2015, S. 145–164, hier S. 156.
4 Vgl. u.a. Daniela Gress, Protest und Erinnerung. Der Hungerstreik in Dachau 1980 und die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma, in: Karola Fings / Sybille Steinbacher (Hrsg.), Sinti und Roma. Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive, Göttingen 2021, S. 190–219.
5 Matéo Maximoff, Germany and the Gypsies. From the Gypsy’s Point of View, in: Journal of the Gypsy Lore Society 25 (1946), Heft 3–4, S. 104–108, hier S. 107.